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Ein Unternehmensberater der besonderen Art


Magazin, 26.09.2016

Das Studium abgebrochen und drei Jahre arbeitslos. Bilderbuchkarrieren sehen anders aus. Richard Haarhoff ist dennoch auf bestem Wege, als Consultant beruflich durchzustarten. Denn der 25-Jährige erkennt Muster in Zahlen, die sonst keiner sieht. Der Einsatz bei ERGO ist sein erster Auftrag.

Ob die Anordnung von Pflastersteinen oder ellenlange Zahlenreihen – egal was: Richard Haarhoff erkennt auf Anhieb Muster, Strukturen, Gesetzmäßigkeiten. Liegt ein Fehler vor – und sei es im kleinsten Detail – sucht er ihn nicht; er sieht ihn. Einfach so. Sein Talent sollte im Grunde von großem Wert sein, denkt man. Aber die Realität sieht anders aus. Zumindest bis vor kurzem hätte Haarhoff kaum Chancen gehabt, eine qualifizierte Stelle auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu finden. Denn Haarhoff hat das Asperger-Syndrom. Mit 15 Jahren erhält er die Diagnose. „Ein Schock war es nicht, sondern eher eine Bestätigung. Meine Eltern, besonders meine Mutter, hatten es schon längere Zeit vermutet und auch ich merkte, dass ich anders war.“ Schon in der Grundschule wird bei Richard Haarhoff eine Hochbegabung festgestellt – mathematisch ist er seinen Altersgenossen weit voraus. Er überspringt eine Klasse. Viele Freunde hat er als Kind allerdings nicht. Nicht, dass er darunter gelitten hätte. Kontakt hat er weder gesucht noch gewollt.

Asperger-Syndrom? Was ist das?

Richard Haarhoff Unter dem Asperger-Syndrom versteht man eine gemäßigte Form im Autismus-Spektrum. Es ist immer durch große Schwächen in der sozialen Interaktion gekennzeichnet. „Aspies“, wie viele von ihnen sich selbst nennen, sind mit zwischenmenschlichen Kontakten einfach überfordert. Es fällt ihnen schwer, Mimik, Gesten, Anspielungen richtig zu deuten. Sie können sich nur schwer in andere hineinversetzen. Blickkontakte meiden sie am liebsten. Deswegen werden sie oft als Eigenbrötler oder Sonderlinge abgestempelt. Auf der anderen Seite besitzen sie oft außergewöhnliche Begabungen. So jonglieren viele wie Haarhoff mit Zahlen. Das Mathematik-Studium fiel ihm beispielsweise zu Beginn leicht. Erst als Gruppenarbeit notwendig wurde, sah er sich gezwungen, sein Studium abzubrechen. „Ich hatte es einfach versäumt, von Anfang an Kontakte mit anderen Studenten zu knüpfen. Es ist aber nicht vorgesehen, dass man sein Studium im Alleingang absolviert.“

Im Gespräch wirkt Richard Haarhoff trotzdem wie ein durchschnittlicher Mitzwanziger. Er ist offen, interessiert, freundlich und sprachgewandt. Er gibt aber auch zu, dass er soziale Umgangsformen wirklich nicht begreift, sondern erlernen musste. Das gelingt ihm manchmal gut, manchmal weniger gut. Seine Kleidung ist leger und unkonventionell, die Haare etwas länger. Äußerlich würde man ihn wohl eher der Computerspiel-Branche zuordnen. Tatsächlich arbeitet Richard Haarhoff seit kurzem als Unternehmensberater der expandierenden IT-Consultant-Firma Auticon, die einmalig auf dem deutschen Markt ist. Zu ihren Kunden zählen große Firmen wie Siemens, Telekom oder der Spiegel-Verlag. Und nun auch ERGO. Das Einmalige an Auticon sind die Consultants, denn es sind ausschließlich Menschen im Autismus-Spektrum. (siehe Kasten)

„Ich gucke auf Zahlen nach Mustern“

Seit Ende letzten Jahres ist Haarhoff bei Auticon angestellt. ERGO ist sein erster Auftraggeber. Er arbeitet für die versicherungsmathematische Abteilung, sein Einsatz ist für ein Jahr vorgesehen. „Wenn man mich fragt, was ich bei ERGO mache, lautet meine Antwort ‚Ich gucke auf Zahlen nach Mustern‘ “, erzählt er. Denn in der Tat ist seine Aufgabe für einen Laien schwer erfassbar und man ist dankbar für eine einfache Antwort. Er durchforstet und bearbeitet riesige Excel-Tabellen und clustert sie. Seine Erkenntnisse helfen dem Unternehmen, Abläufe und Prozesse noch besser und schneller zu gestalten und gegebenenfalls Korrekturen vorzunehmen. Auf das Versicherungsgeschäft hat er sich einige Wochen vor seinem Einsatz vorbereitet. Andere bräuchten dafür ein ganzes Jahr.

Hamburger Großraumbüro mit vierhundert Kollegen

Haarhoffs Arbeitsplatz bei ERGO ist in einem der größten Großraumbüros Hamburgs im Geschäftsviertel City Nord. Nicht wirklich ein ideales Arbeitsumfeld für einen Menschen mit Asperger-Syndrom. Trotzdem fühlt er sich hier wohl. Denn jeder Einsatz der Consultants wird im Vorfeld von Auticon gut vorbereitet. So hat Haarhoff nur einen festen Ansprechpartner, an Besprechungen muss er so gut wie nie teilnehmen. Und sein Schreibtisch ist von den anderen räumlich abgetrennt. Nach der Arbeit taucht der 25-Jährige übrigens in eine ganz andere Welt ein. Wie für „Aspies“ nicht untypisch gibt es das eine Hobby, das ihn begeistert. Für Haarhoff sind es die Brettspiele. Ein Favorit von ihm ist „7 Wonders“. Doch damit nicht genug: Haarhoff erfindet gerne auch selbst neue Spiele und geht regelmäßig zur Spieleautorenmesse in Göttingen. „Beim letzten Mal hatte ein großer Hersteller Interesse an einem von mir entwickelten Spiel. Jetzt wird der Prototyp dort getestet.“ Und ob nicht die Entwicklung von Computerspielen vielleicht doch für ihn interessant wäre? „Wer weiß! Beruflich kann ich es mir schon vorstellen. Privat bleibe ich lieber bei meinen Brettspielen.“

Von Sabina Rappold

Was ist Auticon?

„Querdenker mit System“ ist das offizielle Motto der Berliner Consultant–Firma Auticon. Gegründet wurde sie erst vor fünf Jahren von Dirk Müller-Remus, selbst Vater eines Sohnes mit Asperger-Syndrom. Da er sich nicht mit der Tatsache abfinden wollte, dass Autisten auf dem deutschen Arbeitsmarkt bisher fast chancenlos waren, wurde er selber tätig. Inzwischen hat Auticon Büros in sieben großen Städten und ist weiter auf Expansionskurs. Aktuell sind 74 Consultants angestellt. Bernd Günter leitet das Auticon-Büro in Hamburg und hat Richard Haarhoff angestellt: „Wir haben Richard eingestellt, da er verblüffende Stärken hat, sehr fokussiert ist und sich alle hundertprozentig auf ihn verlassen können. Davon profitiert jetzt insbesondere ERGO. Wir sorgen im Hintergrund dafür, dass Richard seine Stärken entfalten und sich auf das konzentrieren kann, was er gerne tut und was er am besten kann.“

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