Indiens digitale Transformation


Von ERGO CDO Mark Klein

Digitalisierung & Technologie, 16.10.2024

Indien durchläuft aktuell eine beeindruckende digitale Transformation. Innerhalb weniger Jahre hat es das bevölkerungsreichste Land der Welt geschafft, eine robuste digitale Infrastruktur für seine Gesellschaft und Wirtschaft aufzubauen, die wegweisend ist. Was die Erfolgsfaktoren dafür waren – und wie sie sich auf die Versicherungsbranche ausgewirkt haben: eine Analyse.

ERGO CDO Mark Klein 

Stellen Sie sich vor, Sie könnten innerhalb von 480 Millisekunden einen digitalen Bezahlvorgang abschließen. 480 Millisekunden. Das entspricht in etwa einem Blinzeln, einem Herzschlag oder einem Blitz. Diese Zeitspanne ist visuell und auditiv zwar wahrnehmbar, doch so atemberaubend schnell, dass Sie kaum darauf reagieren können. Nun stellen Sie sich vor, dass Sie für diesen digitalen Bezahlvorgang kein Internet bräuchten. Kann es nicht geben, denken Sie? Doch, kann es!

Das indische Fintech Neofinity hat Ende Mai einen Sticker vorgestellt, der künftig genau das leistet: den „NeoZAP“. Der Sticker lässt sich einfach auf die Rückseite eines Handys anbringen. Gekoppelt über eine App und das einheimische Kartenzahlungsnetzwerk RuPay lässt er sich mit Geld aufwerten. So lassen sich über Near Field Communication (NFC) Zahlungen vornehmen, ohne dass es dazu eine physische Karte oder eben Internet braucht. Der „NeoZAP“ soll sich für sämtliche Transaktionen verwenden lassen und auch im öffentlichen Nahverkehr nutzbar sein, etwa in Delhi, Mumbai, Pune, Chennai oder Bengaluru. Die Entwicklung wäre nicht nur die schnellste kontaktlose Zahlungsmethode auf dem Markt. Sie wäre ein weiteres Beispiel dafür, wie Indien Digitalisierung lebt.

Der Staat in Südasien befindet sich seit etwa 15 Jahren auf einer einzigartigen Digitalisierungsreise. Innerhalb kürzester Zeit hat sich das nach der UN mit über 1,4 Milliarden Menschen bevölkerungsreichste Land der Welt zu einem globalen Technologie-Vorreiter entwickelt. Dieser Wandel ist das Ergebnis einer Kombination aus politischen Initiativen, technologischen Innovationen und einer wachsenden Nachfrage nach digitalen Lösungen. Indiens Digitalisierungsgeschichte ist dabei untrennbar mit der Einführung von „Aadhaar“ verbunden, einem Identifikationssystem, das 2009 von der Regierung eingeführt wurde und mittlerweile über 99 Prozent der Bevölkerung erfasst hat.

Die zwölfstellige „Aadhaar“-Nummer dient als Identitätsnachweis …

„Aadhaar“ weist jeder in Indien lebenden Person auf der Grundlage ihrer biometrischen und demografischen Daten eine 12-stellige Nummer zu. Diese soll die sichere Identifikation der Bürger vereinfachen, die Effizienz staatlicher Verwaltungsprozesse erhöhen, die finanzielle Inklusion fördern und die Grundlage für eine breitere Nutzung digitaler Dienstleistungen schaffen. Gestartet war das Programm vor allem auch mit dem Ziel, die Lebensbedingungen für die Landbevölkerung zu verbessern. Rund 65 Prozent der Inder leben im ländlichen Raum. Vor 2009 war es für Teile der Bevölkerung in diesen Gebieten schwer bis teils unmöglich, ihre Identität für Behördengänge nachzuweisen, Zugang zu Bankkonten und Finanzdienstleistungen zu erhalten oder an der Gesellschaft teilzuhaben. Diese Menschen waren von vielem ausgeschlossen.

„Aadhaar“ sollte das ändern. Das System hat sich im Laufe der Jahre zu einem integralen Bestandteil der digitalen Infrastruktur Indiens etabliert und spielt heute eine zentrale Rolle in der digitalen Transformation des Landes. Ob für Finanzdienstleistungen, Steuererklärungen, Mobilfunkverträge, Hochschulregistrierungen, Arbeitsverträge oder Gesundheitsdienste – die „Aadhaar“-Nummer wird standardmäßig zur Identifikation genutzt. Und ist das Fundament des sogenannten „India Stack“.

… und bildet das Fundament des „India Stack“

Beim „India Stack“ handelt es sich um eine Sammlung öffentlich zugänglicher Schnittstellen (Application Programming Interfaces, kurz APIs) und digitaler Infrastrukturen, die die indische Regierung seit 2010 schrittweise entwickelt und kostenfrei zur Verfügung gestellt hat. Sie soll es Bewohnern ermöglichen, sämtliche Angelegenheiten schnell, einfach und digital zu erledigen. Institutionen und Unternehmen sollen damit effiziente und innovative Dienstleistungen entwickeln können. Der „India Stack“ besteht aus vier Schichten:

  1. Die präsenzlose Schicht („presenceless layer“) soll es Bürgern ermöglichen, sich überall und jederzeit unkompliziert digital zu identifizieren, etwa für digitale Behördengänge. Hierfür wird die „Aadhaar“-Nummer genutzt.
  2. Über die papierlose Schicht („paperless layer“) sollen Informationen oder Dokumente digital gespeichert, verarbeitet und zugänglich gemacht werden. Die technologischen Entwicklungen dahinter sind etwa „eSign“, „DigiLocker“ oder „e-KYC“. Der elektronische Signaturdienst „eSign“ ermöglicht es Nutzerinnen und Nutzern seit 2015, Dokumente digital zu unterschreiben. „DigiLocker“ ist ein Cloud-basierter Dienst zur Speicherung, Freigabe und Verifizierung von Dokumenten. Seit 2015 wurden mehr als 4,6 Milliarden Dokumente über „DigiLocker“ ausgestellt, von Führerscheinen und Bildungsabschlüssen bis hin zu Versicherungspolicen. Die API „e-KYC“ („Know Your Customer“) nutzt wiederum die „Aadhaar“-basierte Authentifizierung, um die Identität von Personen zu bestätigen. Dies wird etwa bei Banken, Telekommunikationsanbietern oder Versicherern gebraucht. Seit ihrer Einführung 2012 wurden etwa 10,4 Milliarden e-KYC-Überprüfungen durchgeführt.
  3. Die bargeldlose Schicht („cashless layer“)soll das bargeldlose Zahlen vereinfachen und verbreiteen. Dafür wurde das „UPI“ (Unified Payments Interface) entwickelt, ein einheitliches Echtzeit-Zahlungssystem, das 2016 eingeführt wurde, um sofortige, mobile Transaktionen zwischen Bankkonten zu ermöglichen. „UPI“ hat die Zahlungslandschaft in Indien revolutioniert und das Land zu einem weltweit führenden Anbieter von digitalen Zahlungslösungen wie dem QR-Code-basierten „Paytm“ gemacht, der führenden mobilen Zahlungs-App in Indien. „Paytm“ soll bereits über 400 Millionen registrierte Nutzer haben und über 30 Millionen Händler, die die digitalen Zahlungen akzeptieren.
  4. In der Zustimmungsschicht („consent layer“), dem sogenannten Account Aggregator Framework, können Nutzerinnen und Nutzer ihre Einwilligungen zum Datenaustausch an einem zentralen Ort hinterlegen, widerrufen oder ändern. Damit haben die Benutzer die Hoheit darüber, welche ihrer Daten digital mit Dienstleistern geteilt werden, etwa um Kredite, Versicherungen oder andere Dienstleistungen zu erhalten.

Der „India Stack“ soll eine reibungslose und umfassende digitale Transformation Indiens ermöglichen. Sein Aufbau war ein Prozess, bei dem kontinuierlich neue Komponenten und Plattformen entwickelt und integriert wurden. Die einzelnen Elemente der Sammlung werden von verschiedenen öffentlichen Stellen gemanagt und stehen prinzipiell auch anderen Ländern über APIs beziehungsweise über Drittanbieter wie Digio, Karza, Signzy oder OnGrid zur Verfügung. Mit dem „India Stack“ hat Indien eine wichtige Grundlage geschaffen, um Services für ihre Bürger schneller auszuliefern. Er ermöglicht aber auch eine zunehmend bargeldlose Volkswirtschaft: Wurden 2019 noch rund 70 Prozent aller Handelsumsätze in Indien mit Bargeld gemacht, waren es 2022 nur noch 27 Prozent.

„Digital India“ für mehr digitale Infrastruktur, Kompetenz und Services

Neben dem „India Stack“ war die Einführung von „Digital India“ ein weiterer Meilenstein in der Digitalisierung des Landes. „Digital India“ ist eine umfassende Initiative, die 2015 von der Regierung gestartet wurde, um das Land umfassend zu transformieren. Sie zielt darauf ab, digitale Infrastruktur, digitale Kompetenz und digitale Dienstleistungen im ganzen Land zu fördern: etwa über den Aufbau von Breitbandnetzen und Hochgeschwindigkeitsinternet, die Verfügbarkeit von digitalen Geräten, die Unterstützung und Förderung von Innovationszentren, die Umschulung und Höherqualifizierung von IT-Fachkräften.

Während sich der „India Stack“ auf die Bereitstellung digitaler Werkzeuge und Infrastrukturen konzentriert, umfasst „Digital India“ also eine Vielzahl von Programmen und Projekten, um verschiedene Aspekte der Digitalisierung zu fördern. Beide Initiativen ergänzen sich. Sie haben auch die Versicherungsbranche in Indien geprägt.

Auch die Versicherungsbranche profitiert

So ermöglicht „Aadhaar“ etwa eine schnelle und papierlose Identitätsprüfung, was den Prozess der Policen-Erstellung und -Verwaltung beschleunigt. Mit „eSign“ können Kunden Dokumente elektronisch signieren, was Versicherern Zeit spart und den Bedarf an physischen Dokumenten reduziert. „DigiLocker“ erlaubt es Bürgerinnen und Bürgern, digitale Kopien wichtiger Dokumente sicher zu speichern und mit Dienstleistern zu teilen, etwa mit Versicherern. Über „UPI“ können Versicherungsprämien nun unkompliziert bezahlt werden, was den Zahlungsprozess für Kunden erleichtert und die Zahlungsabwicklung für Versicherer beschleunigt. Durch die Digital-India-Initiative wiederum hat sich die Internet-Verfügbarkeit in ländlichen und abgelegenen Gebieten erhöht, was es Versicherungsunternehmen ermöglicht hat, ihre Dienstleistungen in zuvor schwer erreichbaren Märkten anzubieten und die Versicherungsdurchdringung zu erhöhen. Außerdem hat die verbesserte digitale Infrastruktur es für Versicherer möglich gemacht, mobile Apps zu entwickeln, die den Zugang zu Versicherungsprodukten und -dienstleistungen vereinfachen.

Was HDFC ERGO General Insurance zu einer der digitalsten Einheiten der ERGO Gruppe macht

Die Entwicklungen rund um den „India Stack“ und „Digital India“ haben dazu beigetragen, die Effizienz und Zugänglichkeit von Versicherungsdienstleistungen im Land zu verbessern. So konnten die Versicherungsunternehmen ihre Reichweite erhöhen, Kosten senken und den Kundenservice optimieren. Darüber hinaus haben die beiden Initiativen den Boden bereitet, um gemäß der Plattformökonomie innovative Produkte und Services anzubieten. Damit hat auch ERGO Erfahrung.

So gehört HDFC ERGO General Insurance in Indien zu den digitalsten Einheiten der Versicherungsgruppe. Die Gesellschaft hat sich 2019 auf eine digitale Transformationsreise begeben, wobei hierfür nicht nur der allgemeine Digitalisierungsschub in Indien ein wichtiger Impulsgeber war. Auch innovative regulatorische Änderungen der indischen Aufsichtsbehörde IRDAI (Insurance Regulatory and Development Authority of India) haben hier eine wichtige Rolle gespielt. So haben Maßnahmen wie die „Use and File“-Initiative von 2016, nach der Versicherer in Indien neue Produkte ohne vorherige behördliche Genehmigung launchen können, die Einführung branchengeführter Marktplätze für Versicherungsdienstleistungen oder beschleunigte Zulassungsverfahren für neue Akteure die indische Versicherungsbranche revolutioniert und den Wettbewerbsdruck erhöht. Innovation wurde zur obersten Prämisse.

HDFC ERGO General Insurance hat im Zuge dessen etwa die „Here App“ entwickelt. Das Angebot ist im August 2023 gestartet und als einzigartiges versicherungsgeführtes Ökosystem für Gesundheit und Auto konzipiert. Es steht sowohl Kundinnen und Kunden von HDFC ERGO als auch Nicht-Kunden zur Verfügung. Die App ist eine zentrale Anlaufstelle, an der sich sowohl Versicherungsdienstleistungen finden lassen als auch weitere Services rund um Motor, Gesundheit oder Haustiere. Nutzerinnen und Nutzer können über die „Here App“ etwa Abschleppdienste buchen, Straftickets für zu schnelles Fahren bezahlen oder sich mit anderen Usern über Krankenhäuser, Fachärzte und Co. austauschen. Seit dem Release der App vor rund einem Jahr wurde die Anwendung bereits über 4,5 Millionen Mal installiert.

Ein weiterer Kanal, den HDFC ERGO über die Jahre konsequent für seine Kundinnen und Kunden ausgebaut hat, ist WhatsApp: Über den Messenger lässt sich bei HDFC ERGO nicht nur die gesamte Customer Journey in mehr als 12 lokalen Sprachen abbilden oder ein vollständiger, KI-unterstützter Schadenabwicklungsprozess im Bereich Kfz. Mit dem Konzern Meta ist HDFC ERGO im April 2023 auch eine Partnerschaft für WhatsApp Business eingegangen, die es Kundinnen und Kunden ermöglicht, einfach, schnell und unkompliziert ihre Auto-Versicherung zu erneuern.

Fest steht: Indien durchläuft gerade eine beeindruckende digitale Transformation, die auch Auswirkungen auf die Versicherungsbranche hat. Das Land hat es innerhalb weniger Jahre geschafft, konsequent Bedarfe zu identifizieren und Lösungen dafür zu entwickeln, die von über einer Milliarde Menschen, Unternehmen und Institutionen akzeptiert und genutzt werden. Natürlich müssen dabei Aspekte wie Datenschutz immer fest im Blick behalten werden. Doch in Kombination mit bezahlbaren mobilen Daten, einer jungen, technikaffinen Bevölkerung, einer lebhaften indischen Start-up-Szene, einer stetig wachsenden IT-Branche sowie Zentren für Technologie und Innovation wie Bengaluru, Hyderabad oder Mumbai hat das Land die besten Voraussetzungen geschaffen, um zum Vorzeigemodell in Sachen Digitalisierung zu werden. Davon sollten andere Länder lernen – gerade auch Deutschland.

Hinweis: Dieser Beitrag ist zuerst beim Versicherungsmonitor erschienen.

Text: Mark Klein, CDO ERGO Group AG

ERGO CDO Mark Klein

Autor: Mark Klein, CDO ERGO Group

Mark Klein ist seit 2016 der Chief Digital Officer von ERGO. Zuvor war er bei T-Mobile Netherlands. Seine Hauptaufgabe bei ERGO ist die digitale Transformation des traditionellen Geschäfts im In- und Ausland. Zudem etabliert er neue, digitale Geschäftsmodelle.

Mark Klein bei LinkedIn

Ihre Meinung

Wenn Sie uns Ihre Meinung zu diesem Beitrag mitteilen möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an: next@ergo.de

Ähnliche Beiträge

Wachstum & Märkte 22.05.2024

Vereinfachung – eine Antwort auf die Herausforderungen der VUCA-Welt

Unsere Welt wird immer komplexer. Mit „VUCA“ – kurz für „Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity“ – gibt es inzwischen sogar ein Akronym, das wichtige Treiber dieses Trends in einem Wort zusammenfasst. Doch was lässt sich dem entgegensetzen?

Digitalisierung & Technologie 09.06.2021

Warum eine KI Regeln braucht

Algorithmen durchdringen mittlerweile unseren digitalen Alltag mehr, als wir oft vermuten: Von der Risikoabschätzung für eine Kreditvergabe, über Produktempfehlungen auf E-Commerce-Seiten, bis zur Bilderoptimierung bei Adobe Photoshop – automatisierte Entscheidungshilfen analysieren uns, geben uns Vorschläge und lenken uns damit auch subtil. Aber tun sie das ganz ohne Hintergedanken und wer entscheidet über sie?

Digitalisierung & Technologie 08.11.2021

„KI und Ethik – daraus kann Tolles entstehen“

Wie steht es um die ethischen Aspekte rund um den Einsatz von Künstlicher Intelligenz? Mit diesem Thema befasst sich ein Podcast der Ludwigs-Maximilians-Universität in München. Im //next-Interview: Dorothea Winter, Leiterin des „PhiPod“-Redaktionsteams.