Digitalisierung & Technologie, 25. Mai 2022

KI-Initiativen scheitern häufiger als viele meinen

ERGO CDO Mark Klein über wirksame Algorithmen in Unternehmen

Humanoider Roboter

Sprechen wir im Allgemeinen über Künstliche Intelligenz, dann nehmen wir meist zwei Perspektiven ein, schreibt ERGO CDO Mark Klein in seinem aktuellen Blog für //next: Entweder sind wir gebannt von dem Hype um die Technologie und begrüßen Neuerungen, die uns das Leben leichter machen. Oder – das ist die andere Perspektive – wir sind skeptisch. Wir befürchten eine künstliche Vereinnahmung, ein eigenmächtiges Eingreifen von KI in Dinge, die besser bei uns Menschen bleiben. Beide Perspektiven spielen für Experten allerdings kaum eine Rolle. Sie beschäftigt eine viel profanere Frage: Warum tun sich viele Unternehmen so schwer, Algorithmen an den Start zu bringen, die wirklich etwas bewirken? Die Umsetzung von KI sei längst nicht so erfolgreich, wie viele meinen.

Data Scientists sind so etwas wie die Rockstars der Digitalszene. Aus mathematischen Formeln und Millionen von Daten formen sie wie von Zauberhand hochkomplexe Algorithmen, die erstaunlich präzise arbeiten. So unterbreiten uns Streaming-Dienste wie Netflix individuelle Filmvorschläge, die uns meist recht ordentlich unterhalten. Auch die Google Bildersuche matcht verlässlich Fotos zu bestimmten Foto-Suchanfragen. All das und noch viel mehr machen KI und Data Scientists möglich.

Trotzdem sind die „Rockstars“ erstaunlich häufig unzufrieden mit ihren Jobs – und kündigen. Zumindest hat man diesen Eindruck, wenn man in Experten-Foren und -Journale schaut. Viele finden am Arbeitsplatz eine andere Realität wieder, als sie erwartet hatten. Statt nutzbringende Algorithmen zu entwickeln, kümmern sie sich häufig vor allem um Vorarbeiten. Zum Beispiel um Datensuche und -aufbereitung.

7 Von 10 Unternehmen: KI mit nur minimalen Auswirkungen

Die Unzufriedenheit passt zum Ergebnis des „Artificial Intelligence Global Executive Study and Research Report 2019” der Boston Consulting Group. Danach berichten sieben von zehn befragten Unternehmen, dass KI bisher nur minimale oder gar keine Auswirkungen bei ihnen hat. Die Ausgabe 2021 desselben Reports ergänzt, dass mittels KI hervorgerufene Erfolge in einzelnen Einheiten häufig nicht zu einer gesamtorganisationalen Erkenntnis führten, dass KI wirtschaftliche Vorteile bringt. Und laut dem „Global AI Adoption Index 2021“ von IBM gaben nur etwa ein Fünftel der IT-Experten an, dass ihr Unternehmen KI übergreifend einsetzt.

Warum ist das so? Warum sind Experten unzufrieden und Unternehmen weit weniger erfolgreich als wir dachten – obwohl alle von der technologischen „Superkraft“ Künstlicher Intelligenz überzeugt sind? Die Antwort darauf hat viele Dimensionen. So müssen manche Initiativen abgebrochen werden, weil sie die Hürden von Regulierung, Governance und Compliance nicht überspringen können. Oder eine veraltete IT und Datenarchitektur steht im Wege. Die grundlegend erforderlichen IT-Voraussetzungen werden oft und gerne unterschätzt.

Wir müssen Daten als Vermögensgegenstand begreifen und behandeln. Wir müssen Daten so sammeln, dass sie von vornherein Mehrwerte schaffen.

Mark Klein, CDO ERGO Group

Daten sind ein kulturelles Thema

Der allerhäufigste Grund zu scheitern aber, sind die Daten. Unser Bereich Advanced Analytics benötigt nicht nur für die Trainings der „Algos“ riesige Datensätze. Auch im täglichen Betrieb werden kontinuierlich Daten benötigt – damit die Entscheidungen, die der Algorithmus trifft, immer treffsicherer werden.

Daten sind ein kulturelles Thema. Daher reicht es nicht, ein paar unstrukturierte Daten für das Machine Learning zu strukturieren oder zu labeln. Es geht um ein systematisches Verständnis für den Wert des „Rohstoffs“ Daten. Wie oft müssen auch wir bei ERGO gute Blaupausen wieder in die Schublade tun, weil die Datengrundlage einfach kein maschinelles Lernen zulässt.

Aktuell entwickeln wir ein Data Operating Model zur systematischen Wertschöpfung. Es gilt für alle im Haus, die in irgendeiner Weise mit Daten befasst sind. Wir müssen Daten als Vermögensgegenstand begreifen und behandeln. Wir müssen Daten so sammeln, dass sie von vornherein Mehrwerte schaffen. Daher ist auch die Bereitschaft der Fachbereiche, über innovative, datenbasierte Lösungen nachzudenken, ganz entscheidend für den Erfolg.

Algorithmen zu bauen ist weit entfernt von Zauberei, es ist absolute Schwerstarbeit ineinandergreifender Systeme und Prozesse

Mark Klein, CDO ERGO Group

Effizientes Koppeln aller beteiligten Teilsysteme

Zudem ist ein Algorithmus immer etwas Individuelles, es gibt keine sich wiederholenden Rezepte. Der Data Science Teil alleine reicht bei weitem nicht aus, um Künstliche Intelligenz „herzustellen“. Viele Teilprozesse greifen ineinander. Man muss sich das wie eine Automobilfabrik vorstellen. Ganz am Ende des Fließbandes kommt der bestellte, individuelle Algorithmus heraus. Aber zuvor hat er in mehreren Vorproduktionsstufen schon einige Produktionshallen durchlaufen.

Das Modellieren macht nur einige Stationen auf der Fließband-Reise aus. Aber alle Stationen müssen ineinandergreifend arbeiten, das macht es oft langwierig und kompliziert. Algorithmen zu bauen ist weit entfernt von Zauberei, es ist absolute Schwerstarbeit ineinandergreifender Systeme und Prozesse. Dass viele scheitern, hat genau damit zu tun: mit dem effizienten Koppeln aller beteiligten Teilsysteme.

Warum wir stolz auf unsere AI Factory sind

All die Probleme, die häufig zum Scheitern führen, sind uns bei ERGO gut bekannt. Auch wir sind oft schwer genervt und desillusioniert und müssen Projekte stoppen, weil Wunsch und Wirklichkeit nicht zueinander passen.

Aber bereits vor etwa zwei Jahren haben wir eine Antwort auf die Herausforderungen entwickelt, für die wir in der KI-Szene gute Kritiken bekommen. Wir nennen unsere Lösung „AI Factory“. Fabrik, weil sie eine Art Schablone ist, ein Framework, mit dem wir alle Teilprozesse und losen Enden zu einer Art Fließband verbunden haben. Zwar ist jeder Algorithmus individuell, jedoch ist der grundsätzliche Ablauf bei (fast) jedem KI-Anwendungsfall gleich. So sind wir effizienter und letztlich schneller. Inzwischen haben schon viele „KI-Automobile“ unser Fließband durchlaufen – und wir werden immer besser.

Mit der Factory haben wir eine integrierte „Ende zu Ende“ Plattform, die an den Schnittstellen effizient verbunden ist. Da ist zum Beispiel das „Data Lab“ – unser Modellierungsumgebung – in der der Algorithmus trainiert wird. In der Automobilindustrie würde man das vielleicht den Reinraum nennen. Aber zum Job gehört auch, den Algorithmus in die Prozesse zu integrieren und „produktiv“ auszurollen. Da die Anforderungen an Modellierung und Operationalisierung vollkommen unterschiedlich sind, entsteht das – wie in einer realen Fabrik – in unterschiedlichen, logisch getrennten Einheiten – die aber eng verknüpft sind.

Wir arbeiten in der Amazon Web Services Cloud

Wir haben unsere AI-Factory in der Amazon Web Services (AWS) Cloud aufgebaut. Das hat gleich mehrere Vorteile. Wir können uns auf unser Kerngeschäft konzentrieren. Um Serverleistungen und Serverstabilität kümmert sich der Dienstleister.

Auch bietet uns der Service eine Flexibilität, die wir als ERGO selbst niemals gewährleisten könnten. Wir können uns täglich die Rechenpower ordern, die wir gerade benötigen. Algorithmen sind hochkomplexe mathematische Gebilde. Wenn wir sie mit teilweise Millionen von Datensätzen trainieren, sind nicht nur sehr spezielle Programme notwendig, sondern auch eine exorbitant hohe Rechenleistung.

Und der dritte Vorteil ist die Flexibilität der zuschaltbaren Services. Durch annäherndes Plug & Play können wir selbst programmierte Anwendungen mit Open Source-Modulen und AI-Services von AWS verknüpfen und in unsere AI-Factory integrieren. Das ist ein Arbeits- und Entwicklungsumfeld, die wir als ERGO selbst niemals bereitstellen könnten.

Eine Fabrik eingelassen in einen Hochsicherheitstrakt

Der entscheidende Vorteil der Factory aber liegt gar nicht so sehr in der Technologie –es gibt auch andere, sehr ordentliche Systeme. Der entscheidende Punkt ist die Compliance. Daten sind sensibel. Als Lebens- und Krankenversicherer sind wir unseren Kunden gegenüber geradezu verpflichtet, höchste Sicherheitsstandards aufzubauen. Jeder Arbeitsschritt an unserem Fließband haben wir so aufgesetzt, dass wir höchste Datensicherheit gewährleisten.

Das macht das Entwickeln von Algorithmen natürlich komplexer. Das Tempo, dass wir durch die höheren Sicherheitsstandards verlieren, haben wir durch die Vernetzung aller Prozesse zum Fließband aber längst wieder aufgeholt. Unsere Experten haben inzwischen so viel Erfahrungen mit dem Entwickeln von KI in sicheren Umgebungen, dass ihre Expertise auch von Dritten angefragt wird. Es ist nicht auszuschließen, Teile der AI-Factory als Software as a Service (SaaS) für Dritte zu öffnen. 

Auf dem Weg von der Kunst zu Ingenieurwissenschaften

Zurück zur KI, die oft scheitert. Zurück zu den sieben von zehn Unternehmen, die aussagten, KI habe bisher kaum Auswirkungen gehabt. Ich bin fest überzeugt, dass wird sich ändern. Nicht weil alle unserem Beispiel der AI Factory folgen werden. Sondern weil uns Künstliche Intelligenz effizienter, schneller und kundenfreundlicher macht. Das Potential des Einsatzes von KI ist heute schon riesig und wird definitiv noch weiter zunehmen.

Die Unternehmen werden ihre Startschwierigkeiten überwinden. Es wird eine Professionalisierung stattfinden, die sich insbesondere um die systematisch verknüpfte und sichere Anwendung von Daten und Datenmodellen in Unternehmen dreht. Von einer „Kunst“ der „Rockstars“ wird Künstliche Intelligenz zu einer „Ingenieursdisziplin“ werden.

Wenn das so weit ist, glaube ich, wird auch die Mystifizierung der Künstlichen Intelligenz abnehmen. Je mehr wir uns mit ihr beschäftigen, desto weniger werden wir uns vor ihrer Allmächtigkeit fürchten. Ein Algorithmus ist Mathematik. Nicht simpel, sondern hochkomplex – er braucht viel Rechenpower zum Trainieren. Jedoch weiß er nicht, dass er uns ein Auto anzeigt, wenn wir in der Google Bildersuche nach „Autos“ suchen. Er ist und bleibt Mathematik.


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Autor: Mark Klein, CDO ERGO Group

Mark Klein ist seit 2016 der Chief Digital Officer von ERGO. Zuvor war er bei T-Mobile Netherlands. Seine Hauptaufgabe bei ERGO ist die digitale Transformation des traditionellen Geschäfts im In- und Ausland. Zudem etabliert er neue, digitale Geschäftsmodelle.

Mark Klein – Chief Digital Officer – ERGO Group

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