Einfach, weil's wichtig ist.
Einfach, weil's wichtig ist.
Digitalisierung & Technologie, 05. Dezember 2024
Jeder zweite Mensch in Deutschland erkrankt irgendwann einmal in seinem Leben an Krebs; jedes Jahr gibt es etwa eine halbe Million Neuerkrankungen. Kam vor 50 Jahren eine Krebsdiagnose für die Mehrheit der Untersuchten noch einem Todesurteil gleich, werden dank fortgeschrittener Therapiemöglichkeiten mittlerweile zwei Drittel der Erkrankten geheilt. In jüngster Zeit wird auch Künstliche Intelligenz zur Diagnose und Therapie von Krebserkrankungen herangezogen. Wird KI die Krebstherapie (erneut) revolutionieren? Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Aber schon heute ist KI ein interessanter und vielversprechender Neuzugang im medizinischen Instrumentenkoffer.
Es gibt derzeit zahlreiche Forschungsprojekte, die versuchen, KI für die Krebstherapie fruchtbar zu machen. Einige Ansätze werden in diesem Text vorgestellt. Der Überblick ist nicht repräsentativ, aber er vermittelt einen Eindruck von der Bandbreite der Einsatzmöglichkeiten.
Die Fähigkeit Künstlicher Intelligenz, Strukturen in großen Datenmengen zu erkennen, macht die Medizin sich zunehmend bei der Krebsdiagnose zunutze. Tatsächlich stehen Ärztinnen und Ärzten heute mehr Daten zur Verfügung als früher. So gibt es etwa immer mehr bildgebende Untersuchungen: Computertomographien und andere Röntgenverfahren, Magnetresonanztomographien, Ultraschalluntersuchungen, Mikroskopuntersuchungen von Gewebe, molekulargenetische Untersuchungen oder Hautscreening mit bildlicher Dokumentation.
Bei der Analyse dieser Bilder kann Künstliche Intelligenz wertvolle Dienste leisten. KI-Modelle werden mit Fallbeispielen trainiert und können dann auf aktuellen Patientenbildern Frühformen von Krebs erkennen. Das funktioniert mit verschiedenen Arten von Aufnahmen. In Dresden etwa erkennt eine an der Technischen Universität entwickelte KI genetische Veränderungen an Proben von Darmgewebe. Ein anderes am Uniklinikum durchgeführtes Verfahren ist die Analyse von Bildern aus der Mammographie, bei der die KI verdächtige Knoten identifiziert, die Frühstufen von Krebs sein könnten. An der Berliner Charité integriert KI Informationen aus verschiedenen bildgebenden Untersuchungen zu einem Gesamtbild.
Komplexe Daten fallen überdies bei der genetischen Analyse an. Auch hier hilft KI: In einer Studie der Charité und der Ludwig-Maximilians-Universität München etwa wurde künstliche Intelligenz genutzt, um Modifikationen im Erbgut von Tumoren aufzuspüren – auf diese Weise konnten verschiedene Typen von Nasen- und Nasennebenhöhlen-Tumoren identifiziert werden.
Mit solchen Verfahren lassen sich nicht nur Frühformen, sondern bereits Vorformen von Krebs oder bloße genetische Risiken identifizieren (prädiktive Analytik). So können unter Umständen vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden, bevor Krebs tatsächlich aufgetreten ist.
In den letzten Jahren haben neue Therapieansätze die Heilungschancen bei Krebs deutlich verbessert. Kommt mit künstlicher Intelligenz ein Quantensprung?
Bei der Entwicklung von Krebs-Therapien sind komplizierte Abwägungen zu treffen, in welche die bislang erhobenen Untersuchungsdaten einfließen. Künstliche Intelligenz kann ihren Beitrag dazu leisten, diesen Prozess abzukürzen.
Das Projekt Cancer Scout in Göttingen zum Beispiel nutzt KI, um auf digitalem Weg Gewebeproben von Tumoren zu analysieren (digitale Biopsie) und einzuschätzen, ob ein Tumor voraussichtlich mit einer personalisierten Therapie behandelt werden kann. Nur bei positivem Befund erfolgt eine detaillierte Laboruntersuchung. Die digitale Biopsie ersetzt die flächendeckende molekulare Testung, die aufgrund des enormen Zeit- und Ressourcenaufwands gar nicht leistbar wäre.
Könnte KI nicht auch selbstständig Therapien für einen Patienten entwickeln? Schließlich liegen nicht nur Patientendaten in digitalisierter Form vor, sondern auch wissenschaftliche Studien zum aktuellen Forschungsstand. Tatsächlich hat die Charité in einer Studie Large Language Modelle wie ChatGPT Therapieempfehlungen für konkrete Fälle entwickeln lassen – parallel wurden auch erfahrene Ärzte auf denselben Fall angesetzt. Die Ergebnisse der KI waren manchmal verblüffend gut; meist aber waren sie den ärztlichen Empfehlungen unterlegen.
Auf absehbare Zeit wird KI Ärztinnen und Ärzte also nicht überflüssig machen. Bei der Therapieentwicklung bleibt sie ein Werkzeug, das den menschlichen Experten unterstützt. Das gilt ebenfalls bei der Umsetzung der Therapieentscheidungen. Auch hier kommt auf verschiedenen Teilgebieten Künstliche Intelligenz zum Einsatz. Zwei Beispiele seien genannt:
Bei Strahlenbehandlungen hilft KI, den Bestrahlungsort einzugrenzen, damit möglichst wenig umliegendes Gewebe geschädigt wird. Dazu wird ein in Berlin neu entwickeltes Verfahren genutzt, das ein Bestrahlungsgerät mit einem Computertomographen koppelt. KI identifiziert in Echtzeit die derzeitige Position von Organen im Körper und die Struktur des Tumors; diesen Erkenntnissen entsprechend macht sie Vorschläge zum Ansatz der Bestrahlung.
Bei der chirurgischen Entfernung von Tumoren kann KI in robotergestützten chirurgischen Systemen eingesetzt werden, um präzisere Operationen durchzuführen.
Künstliche Intelligenz kann aber nicht nur Medizinern die Arbeit erleichtern – sie hilft auch Patientinnen und Patienten dabei, sich auf ihre Therapien einzustellen.
KI-gestützte Patienteninformationssysteme etwa spielen Therapiepläne durch und stellen Chancen, Risiken oder Nebenwirkungen im Zeitverlauf dar. So haben Patientinnen und Patienten eine bessere Informationsgrundlage für ihre Entscheidungen über Therapien. KI-unterstützte Apps und digitale Messgeräte im Besitz der Patienten können den Gesundheitszustand in Echtzeit überwachen und Veränderungen an behandelnde Ärzte übermitteln.
Es ist schon angeklungen: KI-Modelle zur Analyse von Patientendaten weisen grundsätzlich immer Leistungsbegrenzungen auf, deren Natur einerseits vom verwendeten Modell, andererseits von der Qualität der Lerndaten abhängt. Bessere Modelle und bessere Daten dürften diese Defizite nach und nach verringern. Es gibt aber auch grundsätzlichere Probleme.
So sind KI-Modelle nicht transparent. Menschen können meist nicht nachvollziehen, auf welche Art und Weise eine KI zu einer Einschätzung gekommen ist. Erweist sich eine Aussage als falsch, ist es kaum möglich zu bestimmen, woran es gelegen hat. Menschen können aus Fehlern der KI nur schlecht lernen.
KI-Ergebnisse sind auch nicht immer reproduzierbar. Wer selbst mit Sprachmodellen wie ChatGPT arbeitet, kennt das Phänomen: Dieselbe Anfrage wird zuweilen zu unterschiedlichen Zeiten oder in unterschiedlichen inhaltlichen Zusammenhängen durchaus unterschiedlich beantwortet. Was sagt das über die Qualität der KI-Einschätzung aus?
Viele Ärztinnen und Ärzte vertrauen den Einschätzungen der Künstlichen Intelligenz derzeit nur begrenzt, und das ist vermutlich gut so. Dies tut der Bedeutung von KI aber nur wenig Abbruch. Wie ein Werkzeug nicht ohne den qualifizierten Handwerker selbst ein Haus bauen kann, so bedarf auch das Instrument KI des versierten Ärzteteams, um zur Heilung eines Patienten beitragen zu können.
Letztlich steckt die Forschung immer noch in ihren Anfängen. So erstaunlich es auch scheint, was heute schon möglich ist – das ganze Potenzial Künstlicher Intelligenz für die Bekämpfung der Volkskrankheit Krebs ist noch lange nicht abzusehen.
Text: Thorsten Kleinschmidt
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