Digitalisierung & Technologie, 19. Dezember 2024

Der Einsatz von KI bei psychischen Erkrankungen

Chancen und Risiken

Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei psychischen Erkrankungen

Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet: Nach Informationen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde sind in Deutschland 17,8 Menschen betroffen. Wird künstliche Intelligenz auch die Behandlung psychischer Erkrankungen revolutionieren?

Viele psychisch erkrankte Menschen brauchen therapeutische Hilfe. Einen Therapieplatz zu finden, kann jedoch zur Herausforderung werden – vor allem für Regionen außerhalb der städtischen Ballungsräume konstatiert die Bundestherapeutenkammer einen gravierenden Mangel an Psychotherapeutinnen und -therapeuten.

Kann Künstliche Intelligenz hier helfen und in die Bresche springen? Tatsächlich wird zu Einsatzmöglichkeiten von KI bei Diagnose und Therapie psychischer Erkrankungen derzeit viel geforscht. Verschiedene therapeutische Chatbots sind auch schon im Einsatz. Aber der Reihe nach.

KI ist gut in der Analyse großer und komplexer Datenmengen. Daten können auch bei psychischen Erkrankungen gesammelt werden: Fragebögen, Selbstberichte, schriftlich aufgezeichnete Therapiegespräche, Video- und Tonaufnahmen. Smartphones und Smartwatches können aber auch Interaktionsmuster und Körperdaten aufzeichnen. All diese Daten enthalten Informationen über den Stand der psychischen Gesundheit. 

KI entdeckt Risiken und unterstützt Diagnosen

Es liegt nahe, KI-Modelle mit solchen Daten zu trainieren und sie anschließend zur Diagnose psychischer Erkrankungen zu nutzen. Dabei werden aber nicht nur voll entwickelte Krankheitsbilder konstatiert. Schon die Anfänge oder auch das bloße Risiko einer Erkrankung könnte KI prinzipiell entdecken. Einige Beispiele:

  • Das Forschungsprojekt „Commitment“ am Mannheimer Hector-Institut für Künstliche Intelligenz in der Psychiatrie versucht mit Hilfe von KI Zusammenhänge zwischen psychischen Erkrankungen und körperlichen Faktoren wie Diabetes, Übergewicht oder Bluthochdruck aufzudecken.
  • Ein Projekt des Instituts für Angewandte Informatik in Leipzig arbeitet an einer Anwendung, die Daten aus Smartphone und Smartwatch auswertet. Aus Informationen wie Bewegungsmustern, der Herzfrequenz oder der Art, wie jemand sein Smartphone bedient, schließt die KI auf psychische Veränderungen – und kann dem Nutzer Ratschläge geben, etwa mehr zu schlafen oder Sport zu treiben.
  • Der KI-Chatbot „Limbic Access” in Großbritannien kommuniziert mit Menschen über ihre Probleme, bewertet die Symptome, gibt Ratschläge und empfiehlt ihnen unter Umständen eine Therapie. Er kann auch direkt einen passenden Therapieplatz suchen und anfragen. Insgesamt ist das System der psychotherapeutischen Versorgung in England allerdings nur schwer mit der Situation in Deutschland zu vergleichen, die Vergabe der Therapieplätze ist anders organisiert. Mehr dazu gibt es hier: https://www.tagesschau.de/wissen/technologie/ki-psychotherapie-102.html

Intelligente Chatbots – digitale Therapeuten?

„Limbic Access“ steht auch für eine andere Stärke von KI: Sie kann sehr gut mit Menschen interagieren. KI-gesteuerte Chatbots sind die wohl bekanntesten Anwendungen künstlicher Intelligenz. Eine Besonderheit psychischer Erkrankungen ist, dass sich ihre Symptome meist auch darin zeigen, was und wie jemand spricht; auch Therapien laufen zu einem großen Teil über Gespräche ab. Sollte KI dann nicht gerade hier ein großes Anwendungsfeld finden? Könnte KI am Ende den menschlichen Therapeuten ersetzen?

Tatsächlich sind Chatbots in Gestalt von Medizin-Apps schon seit einiger Zeit bei Vorsorge und Behandlung im Einsatz. Ursprünglich hatten solche Apps mit künstlicher Intelligenz wenig zu tun. Allmählich werden aber diverse Anwendungen mit KI nachgerüstet oder neu entwickelt. Aus der großen Zahl an Modellen seien einige herausgepickt:

  • Der Chatbot „Woebot“, entwickelt an der Universität Stanford, ist ein Pionier der Gattung. Er erkennt durch Gespräche mit Nutzerinnen und Nutzern Symptome, hilft Erkrankungen zu identifizieren und macht Vorschläge für Übungen und Reflexionen. Die App meldet sich jeden Tag, um Befindlichkeiten abzufragen und mit dem Nutzer auf ihn zugeschnittene praktische Techniken durchzuführen. Woebot orientiert sich am Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie.
  • Die deutsche Online-Therapie-Plattform MindDoc bietet auch eine App an, die den Nutzenden mehrmals am Tag Fragen zum Befinden stellt, die emotionale Gesundheit beurteilt und von Zeit zu Zeit individualisierte Rückmeldungen mit Auswertungen und Übungsvorschlägen gibt. Die App will dabei helfen, das eigene Befinden über längere Zeit zu beobachten und wird auch zur Begleitung einer Online-Therapie eingesetzt.
  • Das Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit hat eine App für Jugendliche entwickelt, die psychischen Erkrankungen vorbeugen soll. Die App lässt sich die aktuelle Stimmung beschreiben, gibt angepasste Tipps und schlägt Übungen vor.

Was kommt als Nächstes?

Die Geschichte der KI bei der Therapie psychischer Erkrankungen hat gerade erst begonnen - weitere Anwendungsfelder sind in Sicht. KI-Modelle können zum Beispiel auch Therapeuten bei der Planung und Evaluation von Therapien unterstützen. So analysiert etwa Künstliche Intelligenz in einem Projekt der Universität Basel Videositzungen und kalkuliert die Wahrscheinlichkeit eines Therapieabbruchs.

Ein spektakulärer Fortschritt könnte die Verbindung von KI mit virtueller oder erweiterter Realität sein. KI könnte für Patienten z. B. eine auf sie zugeschnittene, interaktive virtuelle Trainingsumgebung schaffen, in denen sie üben könnten, Alltagssituationen zu bestehen oder Ängsten standzuhalten.

Die Grenzen

Stehen damit also die Kapazitätsprobleme bei der Psychotherapie vor ihrer Lösung? Vorsicht – gerade bei psychischen Erkrankungen darf man die Erwartungen an KI nicht zu hoch schrauben. Sie hat Einschränkungen, die in der Psychotherapie gravierend zu Buche schlagen. KI versteht nicht wirklich, was Menschen sagen, und sie ist auch nicht zu echter Empathie fähig. Sie geht im Grunde statistisch vor: „In den Lerndaten hatten Menschen mit diesen Spracheigentümlichkeiten in 77 % der Fälle eine Depression.” Oder: “Wenn ein Mensch auf den therapeutischen Vorschlag A nicht anspricht, besteht aus seiner Krankengeschichte nach Abgleich mit anderen Krankengeschichten eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er auf Vorschlag B eingeht.“

Psychische Erkrankungen äußern sich aber bei jedem Menschen anders. Sie sind dynamisch, verändern ihr Gesicht, kennen Fortschritte und Rückschläge. Bloße Statistik wird ihnen nicht gerecht. Das empathische Verstehen von Therapeutinnen und Therapeuten muss die KI-Befunde deshalb einordnen und relativieren.

Die Nutzung von Chatbots ohne die Begleitung eines fachlich qualifizierten Menschen ist ein Notbehelf. Der KI-Bot kann den Therapeuten nicht ersetzen - aber er hilft Menschen, die keinen Therapieplatz finden oder die zögern, sich in Behandlung zu begeben.

ChatGPT-4 wurde in einer britischen Studie übrigens beauftragt, auf Grundlage kurzer Texte einzuschätzen, ob der Verfasser suizidgefährdet sei. Parallel wurden auch erfahrene Psychotherapeuten befragt. Die KI kam zu denselben Ergebnissen wie die Menschen. Da eine KI jedoch nicht verrät, wie sie zu ihrer Einschätzung gelangt ist, können menschliche Beobachter nicht beurteilen, wie verlässlich die Qualitäten des Modells tatsächlich sind. So spricht viel dafür, dass KI bei der Therapie psychischer Erkrankungen auch auf längere Sicht über die Rolle des Assistenten nicht hinauskommen wird, der lediglich Entscheidungen von Menschen unterstützt.  

Text: Thorsten Kleinschmidt

Serie: KI und Volkskrankheiten

Künstliche Intelligenz (KI) verspricht auch in der Medizin bahnbrechende Fortschritte. Wie gehen der Frage nach, welchen Einfluss KI auf Prävention und Behandlung der großen Volkskrankheiten hat.

 

Teil 1: KI bei Diagnose und Behandlung von Demenz

Teil 2: KI und Diabetes: Smarte Allianz mit Potenzial

Teil 3: Künstliche Intelligenz in der Krebstherapie

Teil 4: Der Einsatz von KI bei psychischen Erkrankungen


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